Sinje's Blog: Interview Sarah
Aktualisiert: 11. März 2021
EINLEITUNG
Ich lese zurzeit das Buch FRAUSEIN von Mely Kiyak, sie ist in Deutschland geboren und in einer kurdisch-türkischen Familie aufgewachsen. Heute lebt sie in Berlin als Autorin, schreibt Kolumnen unteranderem auch für das Maxim Gorki Theater und veröffentlich auch Bücher, Essays und Theaterstücke.
„Ich bin eine Frau. Ich bin es gerne. Da ist kein Hadern. Kein Bedauern. Kein Mangel.
Aber auch kein Überfluss. Davon möchte ich erzählen.
Ich beginne dafür an irgendeiner Stelle. Denn es gibt keine Anfänge. Es gibt nur den Blick zurück.“
Seite 9, Mely Kiyak, Frausein, Hanser Verlag2020
Mely Kiyak beeindruckt mit ihrem Blick auf die Welt und das Frausein, als Kind der ersten Generation von Gastarbeitern in Deutschland die „...nie aufbegehrten. Sich politisch nie bemerkbar machten, niemals Ansprüche stellten. Der Aufstieg ihrer Töchter entschädigte sie für alles.“ S. 32
Im zweiten Teil des Blogs über Frauenrechte spreche ich mit vier Frauen, die alle einen sogenannten Migrationshintergrund haben und hier in der Schweiz leben. Alle vier engagieren sich in der ExpoTranskultur und erzählen von ihrem Frausein:
Fragen an Sarah (Sarah, 44 Jahre alt, schweizerin und italienerin. Wohnt in Zürich seit 6 Jahren nachdem sie für mehr als 10 Jahren in Barcelona verbracht hat. Hat keine Kinder und ist happy damit.)

"Ich bin eine Frau. Ich kann nicht sagen, ob ich gerne eine bin. Ich wünschte,
es gäbe keine großen Unterschiede mehr.
Ich wünschte, ich wäre gerne das, was auch immer mein Geschlecht ist."
1. „Ich bin eine Frau. Ich bin es gerne. Da ist kein Hadern. Kein Bedauern. Kein Mangel. Aber auch kein Überfluss. Ich beginne dafür an irgendeiner Stelle. Denn es gibt keine Anfänge. Es gibt nur den Blick zurück.» So beschreibt sich Mely Kiyak, wie würdest Du Dich beschreiben? Wo beginnt Deine Geschichte mit einem Blick zurück? "Ich bin eine Frau. Ich kann nicht sagen, ob ich gerne eine bin. Ich wünschte, es gäbe keine großen Unterschiede mehr. Ich wünschte, ich wäre gerne das, was auch immer mein Geschlecht ist." Ich wurde 1977 geboren. Wuchs die ersten 9 Jahre in der Provinz Como, in Norditalien, auf. Eigentlich bin ich eine Schweizerin “seconda” die ins Ausland aufgewachsen ist. Die Schweizer Staatsbürgerschaft habe ich aber erst in 1985 erhalten. Bis dahin hatte ich nur die italienische Staatsbürgerschaft. Bis dahin erhielten nur im Ausland geborene Kinder mit einem Schweizer Vater das Schweizer Bürgerrecht. Kinder, die nur eine Schweizer Mutter hatten, erhielten erst in 1985 das Schweizer Bürgerrecht. Dasselbe geschah mit meinem Vater und meiner Tante, die ebenfalls in den 1940er Jahren in Italien als Kinder einer Tessiner Mutter und eines italienischen Vaters geboren wurden. Meine Mutter, geboren 1950, stammte aus dem Emmental. Sie hat mein Vater in 1972 in Cape Town, in Südafrika, kennengelernt (Ja, es war während der Apartheid, deshalb haben sie es nur ein paar Jahren ausgehalten..). Die eine floh vor den sozialen und familiären Zwängen des Emmentals, der andere vor dem italienischen Militärdienst. Die Familie meiner Mutter hat bäuerliche Wurzeln. Die Familie meines Vaters stammt aus der Bürgerklasse. Die Familie meiner Mutter wollte nicht, dass sie einen Italiener heiratet und die Familie meines Vaters war dagegen, dass er mit ein Bauernmädchen nach Hause kam. Sie haben es trotzdem getan. Sie bekamen dann zwei Kinder: ich, geboren 1977, und meinen Bruder, geboren 1978. Erst als mein Bruder geboren wurde, durfte meine Mutter ihr Schwiegervater endlich dutzen. Sowohl meine Großmutter aus dem Tessin als auch meine Großmutter aus dem Emmental mussten ihren Ehemännern "folgen". Meine Mutter war aber eine der ersten Frauen, die sich in 1985 scheiden ließen. Die Familien (vor allem Mutter und Schwiegermutter) haben das aber auch wieder nicht gut gefunden. Ich war zeitweise sehr kritisch gegenüber meiner Mutter (und manchmal zu Recht, finde ich), aber nach dem Tod meines Vaters leztes Jahr wurden mir auch einige Probleme noch bewusster. Heute verstehe ich noch mehr, was ihre Scheidung bedeutete (und wie richtig sie damit lag). Ich denke, es war sehr hart und schwierig. Mein Vater hatte sich damals auch geweigert, Alimente zu zahlen, also beschloss sie, ins Tessin zu ziehen, um zu arbeiten und uns finanziell zu unterstützen. Auch sie begann mit 40 Jahren zu studieren, um von der Sekretärin zur Marketingtechnikerin und schließlich zur Marketingleiterin aufzusteigen. Und so konnte sie auch unser Studium bezahlen.
Das Schlimme ist, dass sie sich wieder in falsche Partner verliebt hat. Ich denke, weil sie manchmal ein geringes Selbstwertgefühl hatte. Sehr sehr schade. Das Emmental hat da leider nicht viel geholfen.
Heute bin ich 44 Jahre alt, habe einen fixen Partner erst seit 4 Jahren, bin noch nicht verheiratet und habe keine Kinder gewollt. Aber weder meine Mutter, noch mein Vater, noch mein Bruder, noch meine Onkel mochten das.
In 2003 bin ich dann nach Barcelona gezogen. Da hab ich ein bisschen mehr “familiärischen Ruhe” gefunden und konnte mich auch weiterentwickeln. Dort nahm ich auch Teil an sozialen Bewegungen in 2011-13 und da bin ich ein grossen Schritt weiter auch in Thema Femminismus gekommen.
Ich wurde oft als eine Art Rebellin beschrieben, aber ich möchte einfach das Gefühl haben, frei wählen zu können, ohne zu viele sinnlose gesellschaftliche Bedingungen. Mein Partner ist spanischer Herkunft, 8 Jahre jünger als ich und ich glaube man kann sagen, dass bei ihm eine grosse "Feministische Wille" steckt. Das ist also das, was ich seit meiner Kindheit erwartet hätte, man muss aber eine ziemlich grosse Geduld haben (und auch einige Erfahrungen sammeln).

2. Die italienischen Frauen können seit 1946 wählen, damit liegen sie im europäischen Mittelfeld und 25 Jahre vor der Schweiz! Du hast Familie in beiden Ländern, war der 25 Jahre Vorsprung der Italienerinnen irgendwie spürbar in Deiner Erziehung?
In meiner Erziehung war der Unterschied zwischen Schweiz und Italien, nicht so sehr zu spüren. Meine beiden Großmütter waren Schweizerinnen und mein italienischen und mein emmentaler Großväter waren beiden machomäßig. Ich glaube, meine Mutter hat versucht mich und meinen Bruder auf die gleiche Weise zu erziehen. Mein Vater hingegen war noch eher in der Männer-Dynamik verankert (als ich geboren wurde, war meine Mutter 27 und mein Vater 33). Im Jahr 1971 war meine Mutter gerade 21 Jahre alt und konnte wählen gehen (ich glaube kurz vor der Abreise nach Kapstadt...). Vielleicht ist sie da erstmal auf den feministischen Kampf aufmerksam geworden. Vielleicht haben aber auch ihre Arbeitserfahrung in London als sie 19 war (im 1969) und danach ihre südafrikanische und italienische Erfahrungen geholfen. Vielleicht ist sie aber erst “bewusster” geworden als sie entschieden hat, sich scheiden zu lassen. Vielleicht ist sie aber noch “bewusster” geworden als ihre Tochter nach Barcelona zog und anfing mit ihr zu diskutieren. Ich weiss es nicht genau (meine Mutter ist leider in 2012 gestorben). Ich konnte vor kurzem auch mit Zita Küng, eine bekannte Femministin aus Zürich, sprechen und kam raus, dass es schon ein grosser Unterschied gab zwischen den Emmental und die Stadt Zürich. Zita war auch eine gute Freundin meiner Mutter, sie versuchten zusammen auch ein paar Projekte zu lancieren.
3. Hast Du Lieblingsgeschichten/ Anekdoten rund um die Genderthematik in Italien oder der Schweiz? Best-of, Worst-of? In früheren Fragen habe ich bereits ein paar Anekdoten erzählt :-D
4. Was sind die besten Tricks & Tipps um sich als Frau, besonders als Seconda, in der Schweiz zu behaupten? Ich habe mich immer als eine gute Mischung beschrieben :-)
5. Ist es besser als Mann oder als Frau geboren zu werden? Gibt es Unterschiede, ob wir über die Schweiz oder über Italien sprechen?
Der Moment, in dem ich den größten Unterschied erlebt habe, war als ich mit 37 einen Job in Zürich suchte: In praktisch jedem Vorstellungsgespräch kam die Befürchtung auf, dass ich in den Mutterschaftsurlaub gehen könnte. Ich glaube, dass diese Angst derzeit in der Schweiz präsenter ist als in Italien. Heute bin ich immer noch auf Arbeitsuche und hoffe, dass sich diese Befürchtung langsam erübrigt hat. Ich habe mich sogar entschieden, in meinem Lebenslauf zu schreiben: “No kids (and it is ok!)”. Diese Ironie wird teilweise gewürdigt.
6. Soweit ich weiss, sind die Italienerinnen heute im Durchschnitt die ältesten Mütter Europas (bekommen am spätesten Kinder) kannst Du mir das erklären?
Ich habe das Gefühl, dass in der Schweiz der Druck, Mutter zu werden, für eine Frau immer noch sehr stark ist. Das kann man aber immer noch tun, da die Schweiz immer noch einer der reichste Land der Welt ist.
In Italien ist die Familie natürlich auch wichtig (vielleicht teilweise auch “wichtiger”, oder einfach “unterstützender”, als in der Schweiz), aber heutzutage kann es sich ein Mann in Italien nicht mehr leisten, eine ganze Familie finanziell zu unterstützen. Die Frau muss auch arbeiten gehen und manchmal reicht das auch nicht ganz um auch ein paar Kinder zu haben. Hier können die Frauen noch zu Hause bleiben. Dies erklärt zum Teil auch, warum es immer noch einen großen Unterschied in den Gehältern zwischen Männern und Frauen gibt.
7. Lieblingsfrauen: wer ist das bei Dir und warum?
· Maria Montessori: hat ein der interessantesten pädagogisches Bildungskonzept entwickelt.
· Ruth Dreifuss: Sie wurde im Jahr 1999 zur ersten weiblichen Bundespräsidentin der Schweiz gewählt. Sie hat eine wunderbare Arbeit geleistet, vor allem in der Sozialen und Drogenpolitik.
· Ruth Bütikofer (meine Mutter): Ich bin sehr dankbar für die Erziehung, die sie mir zuteilwerden ließ, und für ihren Mut, sich scheiden zu lassen.
8. Drei Wünsche für alle Frauen auf der Welt:
1) vollständige Gleichstellung
2) volle Gleichberechtigung
3) totale Entscheidungsfreiheit
- Sinje